DDG-Chefin Bitzer: „Diabetes-Tsunami rollt ungebremst auf uns zu“

Wie lassen sich Diabetes und Adipositas in der Bevölkerung vorbeugen? Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, erläutert im Interview mit der Ärzte Zeitung, wie eine Zuckersteuer dabei helfen könnte. Frau Bitzer, die Zuckerindustrie betont, dass Zuckersteuern niemanden schlanker machen. Sind Sie anderer Ansicht? Ja. Wir sehen durchaus den Stellenwert einer Zuckersteuer. Laut WHO sind gerade die gesüßten Getränke einer der Haupttreiber von Adipositas und Diabetes weltweit. Insofern ergeben Herstellerabgaben auf gesüßte Getränke viel Sinn. Sie zeitigen Effekte. Wir sehen das am Beispiel vieler Länder wie etwa Großbritannien oder Mexiko, die eine Herstellerabgabe eingeführt haben. Dieser Schritt hat nicht bloß Einfluss auf das Konsumverhalten der Menschen – auch die Hersteller sind animiert worden, ihre Produkte gesünder zu gestalten. In Großbritannien wurde der Zuckeranteil in einem Großteil Limonaden unter die Marke von fünf Prozent gesenkt. Behauptet wird oft, es fehlten empirische Nachweise, dass eine Zuckersteuer etwas bringe. Das stimmt nicht. Es gibt erste Studien und Hochrechnungen, die den direkten Zusammenhang zwischen Herstellerabgaben und Übergewicht belegen – dazu gehört auch eine kleine Arbeit aus England. Aus dieser geht hervor, dass mit steuerlichen Maßnahmen Fälle von Übergewicht bei Mädchen verhindert wurden. Es gibt ferner eine Modellrechnung der Technischen Universität München, die ebenfalls zeigt, dass sich mithilfe bestimmter Steuermodelle Krankheiten verhindern und Gesundheitskosten einsparen lassen. Das sind erste Hinweise. Wir sind der Überzeugung, dass das eine wichtige Maßnahme im Kampf gegen nicht übertragbare Krankheiten wie Adipositas und Diabetes mellitus ist – es ist nicht die einzige Maßnahme, aber es ist ein wichtiger Schritt. Was ist mit dem Hinweis, dass man sich bei der Bekämpfung von Adipositas und Diabetes auf eine der wichtigsten Ursachen konzentrieren sollte – eine unausgeglichene Kalorienbilanz? Natürlich geht es um die Kalorienbilanz insgesamt. Aber Zucker hat eine hohe Energiedichte und viele Kalorien. Das Problematische ist, dass diese stark gesüßten Getränke gerne von Kindern zum Essen dazu getrunken werden, nicht sättigen, sondern als leere Kalorien die Kalorienbilanz nach oben treiben. Insofern kommt dem Zucker schon eine besondere Bedeutung zu. Ließe sich das Thema gesunde Ernährung über die Schulen stärker in das Bewusstsein junger Menschen bringen? Das wäre sicherlich ein Baustein – ein Lehrfach „Ernährung“ an Schulen wird ja seit Jahren gefordert, ist aber bis jetzt nur Theorie und reicht als alleinige Maßnahme nicht aus. Die Politik setzt immer wieder auf Aufklärung und Appelle und einzelne Projekte, die als freiwillige Angebote und Maßnahmen nahezu alle gescheitert sind. Der Tsunami bei Diabetes und Adipositas und deren Folgeerkrankungen rollt ungebremst auf uns zu. Gerade bei den Bildungsmaßnahmen zeigt sich ein weiteres Problem: Sie erreichen mit solchen Angeboten vor allem die Familien, die sich eh schon bewusst mit gesunder Ernährung auseinandersetzen. Wir brauchen aber gesamtgesellschaftliche Maßnahmen, die es allen Menschen leichter machen, sich gesund zu ernähren und die alle gleichermaßen erreichen. Die DDG wirbt zusammen mit Krankenkassen sowie Kinder- und Jugendärzten seit geraumer Zeit für die Einführung der Zuckersteuer. Ist es nicht irgendwie frustrierend, dass die Politik nicht anspringt? Es ist vor allem nicht nachvollziehbar. Die Zahlen liegen ja auf dem Tisch, die Inzidenzen klettern kräftig nach oben. Auch die Maßnahmen, die nötig wären, sind bekannt. Trotzdem wird weiter auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie gesetzt, den Zuckeranteil in Lebensmitteln und Getränken aus eigenen Stücken ein wenig zu reduzieren. Es wurde 2020 eine nationale Diabetesstrategie im Bundestag verabschiedet, unter deren Dach sicherlich verpflichtende Maßnahmen angebracht gewesen wären. Stattdessen ist vieles darin unverbindlich formuliert und es werden munter weitere Strategien veröffentlicht, die ebenfalls Papiertiger bleiben – so etwa eine nichtssagende Ernährungsstrategie oder ein Positionspapier für mehr Bewegung und Sport. Jedes Ministerium kocht sein eigenes Süppchen – ein Health-in-all-policies-Ansatz aber wird nicht eingelöst. In Deutschland sind rund 8,9 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt. Hat die Politik das Thema auf dem Schirm? In Sonntagsreden womöglich – aber im konkreten Handeln nicht. Seit Monaten wird um Werbeschranken für ungesunde Kinderlebensmittel gerungen, ob wohl dies im Koalitionsvertrag der Ampel steht. An die Diabetesstrategie erinnert sich auch kaum noch jemand in der Politik. Es passiert zu wenig – und das finden wir bedenklich angesichts der Zahl, die Sie in Ihrer Frage genannt haben. Sind am Ende Geschäfte wichtiger als die Gesundheit? Den Eindruck kann man gewinnen. Gerade wenn es um die Werbeschranken für ungesunde Kinderlebensmittel geht. Hier sind wir überrascht, wie viel Rücksicht die Politik auf Industrie und Werbeinteressen nimmt. Uns sollte das gesunde Aufwachsen unserer Kinder mehr wert sein als die Interessen der Lebensmittelindustrie. An diesem Mittwoch startet im Berliner CityCube der 58. Diabetes Kongress: Wie lautet Ihre Botschaft? Mein Appell an die Politik ist, Diabetes ernst zu nehmen. Es handelt sich dabei nicht um eine leichte Lifestyle-Erkrankung. Diabetes kann zu schweren Folgeerkrankungen wie Erblindung, Nierenversagen oder Schlaganfall führen. Ein wichtiges versorgungspolitisches Thema ist die geplante Krankenhausreform. Diabetes darf dabei nicht unter die Räder kommen. Jeder fünfte stationär in einer Klinik behandelte Patient hat einen Diabetes mit im Gepäck. Beim Kongress wollen wir aber auch dafür werben, dass sich die Politik stärker für die Diabetesprävention engagiert und dazu endlich verbindliche Schritte geht. Frau Bitzer, wir bedanken uns für das Gespräch! Quelle: Ärzte Zeitung

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